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Aktuelles

10.09.2021 | Interview mit der WELT

„Erneute Einschränkungen für Geimpfte sind nicht vertretbar“

WELT: Plötzlich sind Sie Mitglied einer auch bundesweit angesagten Partei. Wie gehen Sie damit um?

Bürgermeister Tschentscher: Wir spüren in der SPD gerade starken Rückenwind. Das war nicht immer so, aber es kommt zum richtigen Zeitpunkt. Ich habe erwartet, dass sich die Stärke unseres Kanzlerkandidaten bemerkbar macht, wenn der Wahltermin näher rückt und allen klar wird, dass Angelika Merkel, die unter dem Strich eine gute Kanzlerin war, nicht wieder antritt. Nun stehen drei Personen zur Auswahl, von denen einer alles mitbringt, um ein sehr guter Kanzler zu werden.

WELT: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat Olaf Scholz der "Erbschleicherei" bezichtigt, weil dieser so tut, als wäre nur er die Fortsetzung eines soliden Regierungshandelns.

Bürgermeister Tschentscher: Dass Frau Merkel mehr Gemeinsamkeiten mit Olaf Scholz hat als mit Markus Söder, kann ich bestätigen. Scholz hat sich aber nicht geändert. Er stand schon immer für einen verlässlichen, ruhigen und vernünftigen Regierungsstil.

WELT: Glauben Sie an einen weiteren Anstieg der SPD-Werte bis zur Wahl?

Bürgermeister Tschentscher: Das ist gut möglich, denn es sind noch etwa zwei Wochen bis zur Wahl, in denen Olaf Scholz weitere Diskussionen, Auftritte und Begegnungen mit Bürgerinnen und Bürgern haben kann, um sich und sein Programm zu präsentieren.

WELT: Blicken wir auf die Zeit nach der Wahl. Welche Koalition befürworten Sie?

Bürgermeister Tschentscher: Das lässt sich jetzt nicht entscheiden. Es hängt vom Wahlergebnis, also vom Kräfteverhältnis, und dem Verhalten der anderen Parteien nach der Wahl ab.

WELT: Aber es gibt Wählerinnen und Wähler, die von den Möglichkeiten ihr Wahlverhalten abhängig machen.

Bürgermeister Tschentscher: Scholz macht klare Ansagen, welchen Kurs eine von ihm geführte Bundesregierung einschlägt. Und er wird diese Ansagen nach der Wahl umsetzen, darauf können sich alle verlassen.

WELT: Dann dürfte doch eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen sein. Warum positioniert sich die SPD dann nicht klarer und sendet damit ein Signal in das bürgerliche Lager?

Bürgermeister Tschentscher: Auch hier gilt, dass Olaf Scholz klare Positionen benannt hat, die für alle möglichen Koalitionen gelten. Das ist mehr Wert, als parteitaktische Koalitionsaussagen. Wer es nicht glaubt, kann sich gern in Hamburg informieren.

WELT: Würde ein Kanzler, der zuvor auch einmal Bürgermeister in Hamburg war, der Stadt etwas bringen?

Bürgermeister Tschentscher: Das wäre ein großer Gewinn für uns, weil die Richtlinien der Politik dann von jemanden bestimmt werden, der die Probleme und Anforderungen der Länder kennt. Zuletzt war es doch so, dass wir Länder kaum Unterstützung aus der Bundespolitik hatten. Ob bei der Digitalisierung, dem Klimaschutz, der Energie- und Verkehrswende - das können die Länder und Gemeinden nicht allein aus eigener Kraft stemmen. Wir müssen für die großen Aufgaben, die vor uns liegen, die Kräfte von Bund, Ländern und Gemeinden bündeln, damit Deutschland insgesamt vorankommt.

WELT: Schon bei seinem Wechsel in das Bundesfinanzministerium hat Scholz einige seiner engsten Vertrauten mitgenommen. Würde die Übernahme des Kanzleramts einen neuen Sog in Richtung Berlin auslösen?

Bürgermeister Tschentscher: Er wird für das richtige Personal an den richtigen Stellen sorgen. Dafür gibt viele gute Leute - in Hamburg und außerhalb Hamburgs.

WELT: Was ist mit Ihnen? Vielleicht muss der Posten des Bundesgesundheitsministers besetzt werden.

Bürgermeister Tschentscher: Nein, das kommt für mich nicht in Frage, auch wenn ich vor der Politik sehr gerne in meinem Beruf als Mediziner tätig war. Das Amt des Ersten Bürgermeisters ist sehr spannend, es gibt in Hamburg noch viel zu tun und ich wurde ja auch gerade erst wiedergewählt.

WELT: Dabei müssen Sie ja seit eineinhalb Jahren Gesundheitspolitik stärker betreiben als ihre Vorgänger seit dem Zweiten Weltkrieg. Zuletzt haben Sie bundesweit mit dem 2G-Optionsmodell Schlagzeilen gemacht. Wie haben Sie das Echo darauf empfunden?

Bürgermeister Tschentscher: In Hamburg gibt es viel Zustimmung, selbst von der Opposition. Vielen außerhalb Hamburgs war gar nicht bewusst, dass wir eine zusätzliche Option geschaffen haben und die bisherigen 3G-Bedingungen unverändert weiter gelten. Wir haben jetzt zusätzliche Angebote in Kultur, Freizeit und Sport und gehen damit einen wichtigen Schritt in Richtung des normalen Lebens. Für die vielen Hamburgerinnen und Hamburger, die sich haben impfen lassen, ist es auch rechtlich geboten, solche Möglichkeiten zu eröffnen. Man darf Beschränkungen nur insoweit aufrechterhalten, wie es für den Infektionsschutz erforderlich ist - und nicht darüber hinaus.

WELT: Nach welchem Wert richten Sie denn jetzt aus, wie weit der Infektionsschutz gehen muss?

Bürgermeister Tschentscher: Alles läuft darauf zu, auf die Belegung der Intensivstationen mit Covid 19-Patienten zu achten. Noch ist die Lage vertretbar, aber 120 Patientinnen und Patienten auf den Hamburger Intensivstationen, wie es im Frühjahr war, das darf nicht wieder vorkommen. Denn das Pflegepersonal dort ist schon zu lange extrem belastet und die medizinische Versorgung insgesamt wäre dann erneut gefährdet.

WELT: Dänemark ist jetzt bei einer Impfquote von 80 Prozent und lässt so gut wie alle Beschränkungen fallen. Wann ist das bei uns möglich?

Bürgermeister Tschentscher: In vielen Ländern nimmt die Belastung der Intensivstationen trotz hoher Impfquoten wieder zu, und auch bei uns ist die Lage noch nicht stabil. Klar ist, dass die saisonalen Bedingungen im Herbst wieder schlechter werden und die Lage nur mit dem Fortschritt der Impfung sicherer wird. Deshalb gilt es jetzt, die Impfquote so schnell wie möglich weiter zu erhöhen.

WELT: Glauben Sie, dass es in absehbarer Zeit auch eine Impfung für Kinder unter 12 Jahren geben wird?

Bürgermeister Tschentscher: Das ist denkbar. Aber je jünger die Kinder sind, desto weniger lassen sich die Studienergebnisse der Erwachsenen übertragen. Impfstoffe, Dosierungen und Wirkungen müssen deshalb gesondert und sorgfältig untersucht werden. Wir brauchen Sicherheit und Vertrauen in die in Deutschland zugelassenen Impfstoffe. Und beides erhalten wir nur, wenn wir die hohen wissenschaftlichen Standards bei der Impfstoffentwicklung und -prüfung aufrechterhalten.

WELT: Wären denn auch bei einer steigenden Auslastung der Intensivstationen strengere Maßnahmen den Geimpften gegenüber noch vermittelbar? Man könnte auch sagen, dass die Schutzfunktion des Staates erfüllt ist, seitdem alle ein Impfangebot erhalten haben.

Bürgermeister Tschentscher: Erneute Einschränkungen für Geimpfte sind nicht vertretbar, wenn das Infektionsgeschehen im Wesentlichen auf Nicht-Geimpfte zurückgeht. Wir müssen das Infektionsgeschehen aber weiterhin kontrollieren, denn die erkrankten Nicht-Geimpften müssen ja behandelt werden, und es darf auch in Zukunft zu keiner Überlastung des Gesundheitswesens kommen.

WELT: Aber kann man auf Dauer einer Mehrheit zugunsten einer Minderheit dauerhaft Freiheitsrechte verweigern?

Bürgermeister Tschentscher: Eben deshalb haben wir die 2G-Option eingeführt. Für diejenigen, die kein entscheidender Faktor in der Pandemie mehr sind, weil sie das Impfangebot angenommen haben, geben wir durch die 2G-Option die Chance, wieder ein normaleres Leben zu führen.

WELT: Aber wann kommt der Punkt, an dem man sich als Staat entscheidet zu sagen: Jetzt geht eurer Wege. Denn Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen können kein dauerhaftes Lebensmodell sein.

Bürgermeister Tschentscher: Dieser Punkt ist erreicht, wenn die Impfquote so hoch ist, dass die Auswirkungen von Coronainfektionen keine Gefährdung des Gemeinwesens mehr darstellen. Dann hätten wir keine epidemische Lage von nationaler Tragweite mehr. Es werden dann vermutlich noch weiterhin Menschen an Covid 19 erkranken, aber sie würden zahlenmäßig nicht mehr die gesundheitliche Versorgung und das Gemeinwesen insgesamt gefährden. So wie bei der Grippe, wo jeder für sich selbst im Herbst abwägt, ob er sich impfen lässt, die Erkrankten insgesamt aber keine Bedrohung für die gesundheitliche Versorgung darstellen, weil die Kliniken damit zurechtkommen.

WELT: Gibt es eine Prozentzahl, ab wann die Impfquote hoch genug wäre?

Bürgermeister Tschentscher: Das ist eine schwierige Frage, die selbst Experten derzeit nicht klar beantworten. Die Einschätzung hierzu haben sich im Laufe der Pandemie auch geändert hat, weil neue Virusvarianten aufgetreten sind, die sehr viel infektiöser sind als die ursprünglichen Coronaviren. Wir werden sehen, wie sich die tatsächliche Entwicklung darstellt.

WELT: Hört sich an als würde es noch dauern...

Bürgermeister Tschentscher: Ich hoffe, dass wir zum Ende des Jahres besser dastehen. Wir haben in den letzten Monaten große Fortschritte bei der Impfquote erreicht und gehen jetzt aktiv auf diejenigen zu, die bisher noch gezögert haben. Für einen endgültigen Ausweg aus der Pandemie brauchen wir die Mitwirkung der bisher noch Ungeimpften, dass sie sich selber, aber eben auch das Gemeinwesen schützen.

WELT: Vor einigen Wochen gab es noch Schlangen vor dem Impfzentrum, jetzt gibt es die Schlangen nur noch dann, wenn es besondere Orte wie die Elbphilharmonie sind, an denen geimpft wird, oder direkt vor Ort in Einkaufszentrum. Woher kommt das?

Bürgermeister Tschentscher: Die Einstellungen der Menschen sind eben verschieden. Einige haben die Impfung sehr früh, sehr aktiv gesucht, andere sind skeptisch und haben noch gezögert. Die Impfangebote müssen so vielfältig und unterschiedlich sein, wie die Menschen, die wir erreichen wollen.

WELT: Ein letzter Themenwechsel: zum Klimaschutz. Der Senat erarbeitet gerade einen neuen Klimaplan, wie geht es aus Ihrer Sicht voran?

Bürgermeister Tschentscher: Wir haben 2019 einen sehr ambitionierten Klimaplan aufgestellt, wahrscheinlich den besten, den es in Deutschland gibt. Meine Haltung ist: Wir müssen so schnell wie möglich klimaneutral werden. Dazu gehört, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen, um CO2-Emissionen zu verringern, und die schon bestehenden 400 Punkte unseres Klimaplans ergänzen, sobald es Vorschläge für neue umsetzbare Maßnahmen gibt. So ist es im Koalitionsvertrag vereinbart und an diesem Kurs halten wir fest.

Dies ist umso wichtiger, als Deutschland und Europa ihre Klimaziele noch einmal verschärft haben und das Bundesverfassungsgericht uns verpflichtet, unsere Pläne auch zu Ende zu rechnen. Wir haben in Hamburg bis Ende 2019 schon eine stärkere CO2-Reduzierung erreicht als wir ursprünglich geplant haben. Wenn sich die neue Bundesregierung mit einem Kanzler Olaf Scholz jetzt entschlossen um die Windenergie, den Netzausbau und die grüne Wasserstoffproduktion kümmert, können wir in Hamburg noch sehr viel schneller vorankommen.

WELT: Ihr grüner Umweltsenator Jens Kerstan hat Ihnen vorgeworfen, dass bei Ihnen Wort und Tat in Sachen Klimapolitik nicht zusammenpassen. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Bürgermeister Tschentscher: Ich habe Anfang 2019 dafür gesorgt hat, dass wir einen neuen Hamburger Klimaplan aufstellen. Es gab den Plan bis dahin leider nicht, auch nicht irgendwo in der Schublade. Wir haben dann unter Federführung der Senatskanzlei dafür gesorgt, dass wir einen konkreten Klimaschutzplan mit 400 praktisch wirksamen Maßnahmen aufstellen, das Klimaschutzziel erhöhen und das Klimaschutzgesetz in diesem Sinne anpassen. Wir unterscheiden uns in Hamburg von manchen anderen Regierungen dadurch, dass wir nicht nur Ziele aufstellen, sondern auch ambitioniert handeln und unsere Ziele erreichen.

WELT: Waren Sie verärgert?

Bürgermeister Tschentscher: Es geht nicht um Befindlichkeiten, es geht darum, den Kurs des guten Regierens fortzusetzen.

WELT: Das heißt im Umkehrschluss die Grünen wollten in den Klimaplan Ziele hineinschreiben, von denen man nicht sicher sein kann, dass diese eingehalten werden können?

Bürgermeister Tschentscher: Es geht beim Klimaschutz um eine Aufgabe von historischer Dimension. Wir dürfen nicht vom Handeln ablenken, indem wir zwar Ziele verkünden, aber nicht die dazu passenden Pläne und Maßnahmen haben. Darauf achte ich. Deshalb habe ich mich Anfang letzten Jahres auch gemeinsam mit dem Wirtschaftssenator dafür eingesetzt, dass das Kohlekraftwerk Moorburg abgeschaltet wird und wir den Standort in Zukunft für die Produktion von Wasserstoff nutzen können. Das war eine wichtige Initiative, die durch die Unterstützung des Bundesumweltministeriums und unserer SPD-Ministerin Svenja Schulze erfolgreich war. Neben den vielen Handlungsfeldern, die wir ohnehin bearbeiten, brauchen wir weitere große Schritte dieser Art, die wir gemeinsam mit der neuen Bundesregierung umsetzen wollen. Das ist unsere Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation. Nur so können wir die hohen Klimaschutzziele erreichen, die nötig sind, und nur so erhalten wir zugleich auch die Wirtschaftskraft und den Wohlstand für ein gutes Leben der Menschen in Hamburg und Deutschland insgesamt.

Das ganze Interview ist auch zu finden unter: https://www.welt.de/regionales/hamburg/article233700746/Tschentscher-Erneute-Einschraenkungen-fuer-Geimpfte-sind-nicht-vertretbar.html