"Hamburger Abendblatt": Ab welchem Moment war die innere Bereitschaft da, Erster Bürgermeister zu werden?
Peter Tschentscher: Als wir wussten, dass Herr Scholz geht. Dass es so kommen könnte, war vielen in der SPD schon länger bewusst. Je wahrscheinlicher dies wurde, desto mehr haben sich die, die für seine Nachfolge in Frage kamen, überlegt, ob sie dazu bereit sind. Dafür war Zeit genug. Für mich war relativ bald klar: Ich habe die nötige Erfahrung und bin dazu bereit.
"Hamburger Abendblatt": Wie lang war „relativ bald“? Eine Nacht drüber schlafen, ein Gespräch mit Ihrer Frau, oder wie müssen wir uns das vorstellen?
Peter Tschentscher: In erster Linie muss man das mit sich selbst ausmachen. Aber meine Frau war auch einverstanden. Ich wäre auch gern noch zwei Jahre Finanzsenator geblieben, dann hätte ich mit neun Amtsjahren selbst Herbert Weichmann überrundet. Aber die Variante, Bürgermeister zu werden und diese Stadt gestalten zu können, in der ich seit 30 Jahren politisch aktiv bin, hat mich doch gereizt.
"Hamburger Abendblatt": Und wann war Ihnen klar, dass Sie es werden?
Peter Tschentscher: Am Donnerstagabend vor der Bekanntgabe der SPD-Minister in Berlin. Bis dahin wurden viele Gespräche geführt mit denjenigen, die für die Nachfolge von Olaf Scholz in Frage kamen. Wir haben uns auf den Tag vorbereitet, an dem entschieden wird, dass er nach Berlin geht. Diese Klarheit hatten wir an diesem Donnerstagabend, dem 8. März.
"Hamburger Abendblatt": SPD-Fraktionschef Andreas Dressel, galt in der Öffentlichkeit lange als Favorit, hat dann aber mit Rücksicht auf seine Familie verzichtet. Fühlen Sie sich jetzt als Bürgermeister zweiter Wahl?
Peter Tschentscher: Nein. Auch Herr Dressel kam in Frage und hat sich, wie wir alle, an die Verabredung gehalten, sich dazu nicht öffentlich zu äußern. Dass sich in den Medien dennoch alle auf diese Variante eingestellt hatten, lag nicht an uns. Als es dann anders entschieden war, entstand der Eindruck, wir müssten uns für unsere Entscheidungen rechtfertigen. Aber das empfinden wir nicht so. In kurzer Zeit wird das vermutlich niemanden mehr interessieren. Wichtig ist, was in den nächsten Monaten und Jahren passiert.
"Hamburger Abendblatt": Worauf freuen Sie sich am meisten?
Peter Tschentscher: Dass ich aus dem Ressort, das mich sieben Jahre lang auf den Bereich Haushalt und Finanzen begrenzt hat, heraustreten kann. Senatoren sind in der öffentlichen Darstellung stark an ihr Ressort gebunden. Dabei wird leicht übersehen, dass wir alle insgesamt an Politik interessiert sind und die Entscheidungen des Senats in allen Themen der Stadt gemeinsam treffen. Ich war als Fraktionsvorsitzender in der Bezirksversammlung Hamburg-Nord übrigens viele Jahre auch für alle Themen der Bezirkspolitik zuständig.
"Hamburger Abendblatt": Wovor haben Sie am meisten Respekt?
Peter Tschentscher: Dass es sehr hohe Erwartungen an das Bürgermeister-Amt gibt. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist viel höher. Das habe ich sofort gespürt. Kaum war ich nominiert, wurde ich am nächsten Tag beim Bäcker angesprochen: Sie sind doch unser neuer Bürgermeister! Ich war sieben Jahre lang Finanzsenator und mein Gesicht war wirklich oft in den Zeitungen. Aber in dem Moment wird einem klar: Das ist jetzt eine neue Situation. Die Leute interessieren sich sehr für die Person des Bürgermeisters, und sie erwarten, dass er sich um alle Probleme der Stadt kümmert.
"Hamburger Abendblatt": Wieviel sind Sie denn bereit von sich preis zu geben?
Peter Tschentscher: Mehr als bisher. Aber das enge private Umfeld möchte ich schützen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen gar nicht neugierig sind, wie es bei jemandem zu Hause aussieht, aber sie wollen wissen, wie der Bürgermeister so ist, der im Rathaus regiert. Journalisten fragen dann einfache Dinge wie: Trinken Sie lieber Rot- oder Weißwein?
"Hamburger Abendblatt": Und?
Peter Tschentscher: Rotwein.
"Hamburger Abendblatt": Die Grünen leben nach dem Weggang von Olaf Scholz geradezu auf, fordern mehr Dialog auf Augenhöhe mit dem Ersten Bürgermeister. Hat es daran bislang gefehlt?
Peter Tschentscher: Nein. Auch Olaf Scholz hat intern Rücksprache gehalten. Die Grünen wünschen sich einfach mehr offene Kommunikation. Ich bin gern auf deren Mitgliederversammlung gegangen, habe mich vorgestellt und diskutiert. Dialog auf Augenhöhe kommt nicht nur bei den Grünen gut an.
"Hamburger Abendblatt": Sondern wo noch?
Peter Tschentscher: Es gibt bei vielen den Wunsch nach mehr Mitsprache. Früher waren die Leute froh, dass sie überhaupt wählen durften. Doch das demokratische Bewusstsein hat sich weiterentwickelt, die Menschen mischen sich stärker ein. Ich glaube, sie erwarten gar nicht für jedes Problem sofort eine Lösung oder dass die Politik ihre Meinung eins zu eins übernimmt. Aber sie erwarten schon, dass ihre Sichtweise im Rathaus bekannt ist, wenn dort Entscheidungen getroffen werden.
"Hamburger Abendblatt": Hatte Olaf Scholz da Defizite?
Peter Tschentscher: Sie sollten daraus, dass ich ein paar Dinge anders machen möchte, keine Kritik an meinem Vorgänger oder der bisherigen Senatspolitik ableiten. Das wäre unglaubwürdig: Ich war immerhin sieben Jahre Mitglied dieses Senats.
"Hamburger Abendblatt": Also war die Kritik der Grünen an Scholz unberechtigt?
Peter Tschentscher: Nun ja. Selbst wenn er die Grünen in Regierungserklärungen nicht direkt erwähnt hat: Er hat auch in den vier Jahren SPD-Alleinregierung nicht vom „SPD-Senat“ gesprochen, sondern immer nur von „dem Senat“. Wir machen Politik nicht für Parteien, sondern für Hamburg.
"Hamburger Abendblatt": Mit Verlaub. Olaf Scholz hat die Grünen als „Anbau“ bezeichnet, jetzt tanzen sie im Wohnzimmer.
Peter Tschentscher: Nein. Der „grüne Anbau“, bezogen auf die Bildung der rot-grünen Koalition, das war doch ein passendes Bild. Ein „Anbau“ ist nichts Negatives. Für mich gilt: Es gibt nur einen Senat, und dessen Bilanz muss 2020 insgesamt vor den Wählern bestehen.
"Hamburger Abendblatt": Seit Ihrer Nominierung wurde oft betont, wie ähnlich Sie Ihrem Vorgänger sind. Ist das für Sie ein Lob oder eher ein Bürde?
Peter Tschentscher: Ein Lob. Ich halte Olaf Scholz für einen der besten Politiker Deutschland. Aber auch wenn wir uns in der analytischen, vorausschauenden Denkart ähneln, gibt es doch Unterschiede in der Persönlichkeit.
"Hamburger Abendblatt": Nämlich? Was werden Sie anders machen?
Peter Tschentscher: Ich bin durch einen anderen beruflichen Hintergrund geprägt und werde mich daher auf eine andere Art mit den Themen befassen.
"Hamburger Abendblatt": Also hier der distanzierte Jurist Olaf Scholz, dort der menschenzugewandte Arzt Peter Tschentscher.
Peter Tschentscher: Ich habe jedenfalls einen anderen Zugang zu bestimmten Themen, und das wird man bei meiner Arbeit merken.
"Hamburger Abendblatt": Wie konkret?
Peter Tschentscher: Wir haben uns als Senat schon immer stark um junge Menschen und Familien gekümmert, und das ist auch richtig: Gebührenfreiheit in den Kitas, Jugendberufsagenturen und Abschaffung der Studiengebühren. Wir haben uns für Jobs eingesetzt und dafür, dass die Menschen eine gute Arbeit haben. Aber irgendwann wird man eben älter. Und die ältere Generation soll auch gut leben können in Hamburg. Die Gesundheitssenatorin bewegt dort schon sehr viel. Ich habe mir vorgenommen, das noch sichtbarer zu einem eigenständigen Thema zu machen. Dass wir gute Seniorenheime haben oder andere altengerechte Wohnformen, Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, gute Pflege...
"Hamburger Abendblatt": Stichwort Wohnungsbau: Aus Ihrer Parteitagsrede konnte man schließen, dass auch 10.000 neue Wohnungen pro Jahr nicht reichen werden.
Peter Tschentscher: Ja, das ist ehrgeizig. Wir haben mal mit 6.000 Baugenehmigungen pro Jahr als Ziel angefangen, und schon das haben viele nicht für möglich gehalten. Letztes Jahr waren es dann 12.000. Aber irgendwann lässt sich das nicht mehr steigern. Wir nennen jetzt die Größenordnung „mehr als 10.000“. Wichtig dabei ist, dass der Anteil der Wohnungen mit günstigen Mieten steigt. Das wollen wir durch den Wohnungsbau der städtischen SAGA erreichen und durch klassische Sozialwohnungen. Aber es gibt auch viele Menschen, deren Einkommen knapp über den Grenzen für eine geförderte Wohnung liegen und die sich trotzdem keine Neubaumiete von zwölf Euro pro Quadratmeter leisten können. Für diese Gruppe haben wir die Acht-Euro-Wohnungen entwickelt: Sie werden zwar nicht staatlich gefördert, aber wir stellen die Grundstücke günstiger zur Verfügung und ermöglichen kosteneffizientes Bauen.
"Hamburger Abendblatt": Sie haben kürzlich auf die 300.000 Ein-Pendler verwiesen, für die es doch viel günstiger wäre, in der Stadt zu wohnen. Wollen sie die alle nach Hamburg holen?
Peter Tschentscher: Nicht alle, aber einen Teil. Etliche sind ja nur nach Norderstedt oder Lüneburg gezogen, weil sie für sich und ihre Familien in Hamburg keine geeignete Wohnsituation gefunden haben. Also pendeln sie ein und aus. Das verursacht Lärm, Luftverschmutzung und Staus. Wenn wir diesen Menschen Wohnraum in Hamburg bieten könnten, würde das viele Probleme lösen – mal ganz abgesehen davon, dass es sich auch finanziell positiv auswirken würde. Wir geben jedes Jahr von der in Hamburg erhobenen Einkommensteuer zwei Milliarden Euro ab, weil die Menschen zwar bei uns arbeiten, aber nicht hier wohnen.
"Hamburger Abendblatt": Wir haben jetzt schon eine Volksinitiative gegen Flächenfraß und Naturzerstörung. Die wird sich freuen.
Peter Tschentscher: Wir sind noch gut dran. Berlin ist ungefähr so groß wie Hamburg, hat aber doppelt so viele Einwohner. Auch Frankfurt oder München sind viel dichter besiedelt. In Hamburg ist Wachstum noch möglich. Das muss nicht immer schneller, höher, weiter bedeuten – aber manchmal eben doch. Zum Beispiel am Barmbeker Bahnhof. Dort treffen zwei U-Bahnen, eine S-Bahn und diverse Buslinien aufeinander. In solchen gut erschlossenen Lagen muss man auch mal in die Höhe gehen, um nicht anderswo neue Flächen zu versiegeln. Und wenn es dann doch nötig ist, schaffen wir durch den Naturcent einen Ausgleich an anderer Stelle.
"Hamburger Abendblatt": Zwei Millionen Einwohner sind also eher Verheißung als Bedrohung?
Peter Tschentscher: Irgendwann ist natürlich Schluss. Aber wir haben noch Möglichkeiten.
"Hamburger Abendblatt": Olaf Scholz hat ja einmal gesagt, mit ihm werde es keine Fahrverbote geben. Den Satz würden Sie nicht wiederholen, oder?
Peter Tschentscher: Es gibt an wenigen Stellen Durchfahrbeschränkungen. An den härtesten Stellen ist es aufgrund von Vorgaben, die von außen kommen, erforderlich, diese Maßnahme zu machen. Aber sie sind begrenzt auf Dieselfahrzeuge der schlechteren Kategorie. Und ich bin sicher, dass viele Leute gerne vom Auto umsteigen und den Straßenraum entlasten werden, wenn wir zum Beispiel die neue U5 fertig gebaut haben.
"Hamburger Abendblatt": Aber die Umwelthilfe, die ja gegen viele Städte wegen der Luftbelastung geklagt hat, wird nicht bis zur Fertigstellung der U5 im Jahr 2030 warten.
Peter Tschentscher: Nein, aber wir tun ja vorher schon viel zur Verbesserung der Luftqualität. Von 2020 an werden wir nur noch emissionsfreie Busse beschaffen. Ich bin fasziniert davon, was alles technisch möglich ist. Wir haben eine effiziente, wirtschaftlich stark aufgestellte Hochbahn, die sich das vorgenommen hat. Das wird wieder ein Vorbild in Deutschland sein. Ich sage aus Überzeugung: Wir haben die besten Tage noch vor uns.
"Hamburger Abendblatt": Ist Hamburg eine sozial gespaltene Stadt?
Peter Tschentscher: Nein. Das war sie nie. Wir haben schon immer wirtschaftliche Kraft und soziale Verantwortung verbunden. Aber es gibt Probleme für diejenigen, die in Branchen mit sehr niedrigen Löhnen arbeiten. Da müssen wir ansetzen und haben das in der Vergangenheit getan: Wir haben als erstes Bundesland den gesetzlichen Mindestlohn für den öffentlichen Sektor eingeführt und die Leiharbeit begrenzt. Wir müssen jetzt wieder einen Schritt vorangehen, indem wir mit den Gewerkschaften Tarifverträge schließen, mit denen am Ende jeder in den öffentlichen Unternehmen auf einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde kommt.
"Hamburger Abendblatt": Für welche Berufsgruppen gilt das?
Peter Tschentscher: Zum Beispiel für Gebäudereiniger oder Bodenverkehrsdienste – das sind ja Bereiche, die gar nicht unter dem internationalen Konkurrenzdruck stehen, weil man sie gar nicht ins Ausland verlagern kann. Deswegen sollte es möglich sein, dass wir schrittweise die zwölf Euro erreichen in einer Stadt mit so hoher Wertschöpfung. Wer ein Leben lang für diesen Lohn arbeitet, darf am Ende nicht auf das Sozialamt angewiesen sein.
"Hamburger Abendblatt": Wie schnell kann das gehen?
Peter Tschentscher: Das wir nur schrittweise gehen. Wir beginnen jetzt mit den Gesprächen mit den Gewerkschaften.
"Hamburger Abendblatt": Die werden nichts dagegen haben.
Peter Tschentscher: Nein, aber wir müssen das mit unseren öffentlichen Unternehmen hinbekommen. Ich meine, dass sie die wirtschaftliche Kraft haben, das zu machen. Das ist ein lösbares Problem. Wenn wir das geschafft haben, dann sind wir einmal mehr Vorreiter in Deutschland.
"Hamburger Abendblatt": Die soziale Spaltung verläuft ja auch regional. Die Unterschiede zwischen Blankenese und Billstedt oder Harvestehude und Harburg sind riesig.
Peter Tschentscher: Das ist so, und deswegen ist unser Ansatz, dass Sozialwohnungen oder Wohnungen mit niedrigen Mieten zum Beispiel auch in der HafenCity entstehen. Das kostet Geld, weil wir für ein städtisches Grundstück, auf dem Wohnungen mit Mietpreisbindung entstehen, niedrigere Preise bekommen. Wir wollen den sogenannten Drittel-Mix, also durchschnittlich ein Drittel Sozialbindung bei Neubauprojekten. Wir wollen die Stadt nicht in Arm und Reich unterteilen.
"Hamburger Abendblatt": Aber das ist sie doch schon.
Peter Tschentscher: Unser Ansatz ist es aber, diese Tendenzen nicht noch zu verschärfen, sondern ihnen entgegenzuwirken. Uns geht es um eine ganzheitliche Stadtentwicklung: Das Prinzip – da wohnen die Reichen, da die Armen, da wird gearbeitet und da gewohnt, da ist es laut und da ist es schön grün – ist nicht das richtige Konzept. Die Stadt soll hohe Lebensqualität für alle bieten.
"Hamburger Abendblatt": Eine Volksinitiative fordert eine bessere personelle Ausstattung der Kitas. Bislang lehnt der Senat das ab. Kann es sein, dass das Problem jetzt mit mehr Geld aus dem Bundeshaushalt gelöst wird?
Peter Tschentscher: Richtig ist, dass wir für das, was wir ohnehin vorhaben, zusätzliches Geld benötigen. Aber: Der Kita-Bereich entwickelt sich auch aufgrund gestiegener Bevölkerungszahlen rasant. Schon in den nächsten Jahren werden die Ausgaben dafür eine Milliarde Euro pro Jahr erreichen. Wir finden schon jetzt nicht so viele Erzieherinnen und Erzieher wie wir brauchen. Deswegen ist es nicht realistisch, den Betreuungsschlüssel jetzt noch schneller zu verbessern. Wir müssen auf Machbarkeit achten.
"Hamburger Abendblatt": Wenn es keine Einigung mit der Initiative gibt, bleibt nur der Gang zum Verfassungsgericht, oder?
Peter Tschentscher: Im Fall der Kita-Initiative ist das noch nicht entschieden. Vielleicht können wir uns auf etwas Vernünftiges einigen. Aber manchmal gibt es Forderungen, bei denen ich sage: Das geht nicht. Ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr klingt ja toll, aber ich möchte die Großstadt sehen, die das mal eben finanziell stemmen kann. Ich fühle mich verpflichtet, auf Realitätssinn und Vernunft zu setzen. Und unsere Gesetze sehen vor, dass wir Forderungen vom Verfassungsgericht überprüfen lassen, wenn wir Zweifel an der Finanzierbarkeit haben.
"Hamburger Abendblatt": Das Erzbistum will bis zu acht katholische Schulen schließen, obwohl die Schülerzahl insgesamt steigt. Was kann der Staat da tun?
Peter Tschentscher: Erst einmal finde ich es bemerkenswert, dass die katholischen Gemeinden eine sehr engagierte Diskussion darüber führen und viele Annahmen infrage stellen. Das Zweite ist, was wir für Privatschulen tun können. Wir sind bundesweit Spitze. Kein anderes Bundesland gibt so viel aus für den Privatschulsektor. Das finde ich auch in Ordnung. Was die katholischen Schulen über den reinen Unterricht hinaus vermitteln, finde ich gut. Diese Schulen haben eine wichtige Aufgabe in der Stadt.
"Hamburger Abendblatt": Was halten Sie von Idee, eine Schulgenossenschaft zum Erhalt aller katholischen Schulen zu gründen?
Peter Tschentscher: Ich finde die Idee charmant. Ich hoffe ich, dass es zu einer Lösung kommt. Ob wir als Stadt etwas dazu beitragen können, muss man sehen.
"Hamburger Abendblatt": Die Grünen-Senatoren Jens Kerstan und Katharina Fegebank unterstützen die Volksinitiative „Tschüs Kohle“, die zum Ziel das Abschalten des Kohlekraftwerks Moorburg hat. Ist das ein Affront für Sie?
Peter Tschentscher: Nein, aber man muss ja sagen, wer das Kraftwerk genehmigt hat. Das war der damalige Senat mit grüner Beteiligung. Vattenfall hatte seinerzeit einen Anspruch auf die Genehmigung. In der Wirtschaft geht es immer um Planungssicherheit. Und es gibt eine Betriebserlaubnis für dieses Kraftwerk. Andererseits ist Kohle nicht die Energieform, die wir uns für die Zukunft wünschen. Wir brauchen regenerative Energien. Den industriellen Bedarf können wir bislang nicht darüber decken. Da bedarf es noch weiterer Schritte.
"Hamburger Abendblatt": Könnten Sie denn den Aufruf der Volksinitiative auch unterschreiben?
Peter Tschentscher: Volksinitiativen sollen vom Volk kommen. Meine Aufgabe ist es jetzt, die Dinge aus der Bürgermeistersicht anzusehen.
"Hamburger Abendblatt": Wir verstehen die Kritik an Ihren grünen Senatskollegen.
Peter Tschentscher: Nein. Ich erkläre das für mich. Alle Gespräche mit den Grünen in den vergangenen Wochen waren sehr einvernehmlich. Wenn man regiert, muss man die Realität im Blick haben. Trotzdem darf man Ideale haben und sich eine Energieversorgung ohne Kohle wünschen.
"Hamburger Abendblatt": Die Grünen fordern eine klare Distanzierung der rot-grünen Koalition von dem G20-Gipfel. Werden Sie dem nachgeben?
Peter Tschentscher: Bei aller Kritik und Verunsicherung: Nach allem, was wir jetzt wissen, hat es keine vorhersehbar falschen Entscheidungen gegeben. Das Ausmaß der Gewalt hat niemand erwartet. Es wird jetzt konsequent ermittelt. Die Polizei hat zum ersten Mal auch im Nachhinein viele Täter gefasst, die teilweise zu Recht hart verurteilt wurden.
"Hamburger Abendblatt": Die Grünen wollen solche Veranstaltungen nicht mehr in der Stadt haben. Sie schließen das aber nicht aus?
Peter Tschentscher: Wir sind eine internationale Stadt und können uns nicht von Gewalttätern vorschreiben lassen, welche Veranstaltungen wir durchführen. Aber wir werden die Erfahrungen und Erkenntnisse vom G20-Gipfel bei allen künftigen Entscheidungen beachten.
"Hamburger Abendblatt": Welche Zukunft hat die Rote Flora?
Peter Tschentscher: Da muss sich etwas ändern. Aber diejenigen, die jetzt flott eine Räumung fordern, haben selbst viele Jahre nichts unternommen, als sie im Senat Verantwortung hatten.
"Hamburger Abendblatt": Sie sind Arzt – inwieweit ist das eine gute Voraussetzung für Ihr neues Amt?
Peter Tschentscher: Ich glaube, es ist eine gute Voraussetzung. Der berühmte Arzt und Politiker Rudolf Virchow hat gesagt: „Politik ist anderes nichts als Medizin im Großen.“ Er hat den Zusammenhang zwischen Gesundheit und den Lebensumständen, den sozialen Bedingungen beschrieben. Die ärztliche Tugend lautet: Zunächst untersuchen, dann einen Befund erheben und die Diagnose stellen. Erst zum Schluss wird die Therapie festgelegt. Das halte ich für übertragbar. In der Politik werden oft Maßnahmen gefordert, bevor die Ursachen eines Problems geklärt sind.
Das Interview führten Andreas Dey, Matthias Iken und Peter Ulrich Meyer.